Sehr geehrte, liebe Frau Barbara Genscher – ich freue mich sehr, dass Sie die Mühe auf sich genommen haben und heute zu uns gekommen sind!

Sehr geehrter Herr Baum – vielen Dank auch an Sie, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind und gleich die Festrede halten werden,

lieber Herr Professor Hacker – herzlichen Dank, dass wir hier in der Leopoldina zu Gast sein dürfen, Sie werden sicher gleich noch einige Worte zur besonderen Beziehung zwischen Hans-Dietrich Genscher und der Nationalakademie sagen,

ein herzliches Willkommen auch an Sie, lieber Herr Fugmann, Sie werden nachher noch einige ganz besondere Erinnerungen an Hans-Dietrich Genscher mit uns teilen.

Lieber Peter Sodann, lieber Hermann Gerlinger, schön, dass Sie als Ehrenbürger der Stadt Halle (Saale) heute Abend dabei sind,

sehr geehrte Generalkonsulin Pieper,

sehr geehrte Frau Ministerin Dalbert,

sehr geehrte Frau Häußler,

sehr geehrte Landtagsabgeordnete,

sehr geehrter Herr Stadtratsvorsitzender Lange, in Vertretung für unsere Stadträtinnen und Stadträte,

liebe Hallenserinnen und Hallenser,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

ein Tag für Hans-Dietrich Genscher.

Ich freue mich sehr.

Vor vier Stunden haben wir den Bahnhofsplatz in Hans-Dietrich-Genscher-Platz umbenannt.

Jetzt der Festakt.

Wer hätte das gedacht?

Dass wir das hinkriegen, in unserem Stadtrat.

Ehrlich gesagt, ich habe nie dran gezweifelt. Ich glaube sogar, es herrschte zu jedem Zeitpunkt Einigkeit darüber, dass es eine solche Ehrung geben muss. Und zwar nicht aus irgendeiner Art von Pflichtgefühl, sondern heraus aus einem tiefen inneren Bedürfnis. Ich denke, das hat man nicht zuletzt heute Nachmittag erleben können. Denn die Zuneigung, mit der die Menschen in Halle an Hans-Dietrich Genscher denken, diese Zuneigung ist ungebrochen.

Meine Damen und Herren, in der letzten Woche habe ich unter anderem in einem Buch geblättert: „Hans-Dietrich Genscher – Der Außenminister“.

Es ist ein großformatiger Bildband. Gut 250 Seiten dick.

Und je länger ich blätterte, umso mehr dachte ich:

Was für eine Person.

Was für ein beeindruckendes Leben.

Und: was für ein reiches Leben.

Man findet in dem Buch Fotos, die Hans-Dietrich Genscher mit quasi allen Persönlichkeiten der Weltgeschichte zeigen. Auf allen Kontinenten. Zwischen 1970 und der Jahrtausendwende.

Man sieht:

Genscher mit Kissinger.

Mit Breschnew.

Mit Michael Gorbatschow. Natürlich.

Weltgeschichte, wie gesagt.

Die Bilder zeigen Hans-Dietrich Genscher oft kämpferisch: als leidenschaftlichen Europäer. Jede Gelegenheit nutzte er, dies immer wieder zu betonen, so auch in einem Video-Interview der Neuen Zürcher Zeitung aus dem September 2012:

Zitat:

„Deutschland trägt für Europa eine Verantwortung. Eine besondere Verantwortung. Also ich glaube an die Zukunft Europas und werde meine ganze Kraft dafür einsetzen, dass dieser Weg weiter beschritten wird. Europa gemeinsam ist unendlich viel, auf jeden Fall wird das Europa gemeinsam in einer neuen Weltordnung, die jetzt entsteht, nie ein Spielball sein.“

Wie er hätte wohl reagiert auf den Umstand, jetzt, zwei Tage nach dem die britische Regierung in Brüssel den Antrag zum Austritt aus der EU eingereicht hat. Dass die Europäischen Union so nach und nach möglicherweise wirtschaftlich schwächer wird und irgendwann vielleicht doch zum Spielball wird. Ich denke, Hans-Dietrich Genscher hätte im Vorfeld diplomatisch vieles versucht, um dies zu verhindern. Wir vermissen hier seine starke Stimme.

Das letzte Kapitel des Genscher-Bildbandes heißt: „Der Privatmann“.

Man blättert um.

Und sieht:

Den Marktplatz von Halle! Mit Rotem Turm und Marktkirche, beide übrigens noch schwarz vom Industrie-Schmutz.

Und auf der gegenüberliegenden Seite sieht man: Hans-Dietrich Genscher und Sie, liebe Barbara Genscher, beim Spaziergang an der Saale. Im Hintergrund die Kröllwitzbrücke und die Burg Giebichenstein. Das Wetter war nicht so toll. Sie Frau Genscher, tragen einen Regenschirm. Aber Sie lächeln trotzdem freundlich in die Kamera des Fotografen.

Meine Damen und Herren, beim Anblick dieser Fotos habe ich Rührung empfunden. Und auch Stolz. Der Bildtext zu den Fotos lautet: „Keiner Stadt hat Genscher so die Treue gehalten wie seiner Heimatstadt Halle an der Saale.“

Das ist wohl so – und das ist natürlich mit ein Grund dafür, dass es uns Hallensern ein tiefes Bedürfnis ist, das Andenken an Hans-Dietrich Genscher lebendig zu halten.

Auch in seinen Erinnerungen geht Hans-Dietrich Genscher gleich auf den ersten Seiten auf Halle ein. Genscher schreibt: „Zeit meines Lebens war ich stolz auf Halle, meine Heimatstadt, eine moderne und weltoffene Industriemetropole, ein Kulturzentrum, eine Universitätsstadt. Das Bildungsbürgertum in Stadt und Umgebung bestimmte den Charakter Halles genauso wie die selbstbewusste, hochqualifizierte Industriearbeiterschaft.“

Sie finden diese beiden Sätze auch auf den Einladungen.

Wie wir alle wissen, hat Hans-Dietrich Genscher den größeren Teil seines Lebens im Westen gelebt. Aber er hat immer betont: Seine Wurzeln liegen in Halle. Hier hat er die ersten 25 Jahre seines Lebens gelebt, hier ist er geprägt worden, wie er selbst gesagt hat. Und wenngleich Bonn sein Zuhause war – seine Heimat, auch das hat er immer wieder gesagt, seine Heimat war Halle.

Halle war für Hans-Dietrich Genscher eine echte Herzenssache.

Genschers Interesse an Halle, seine Zuneigung zu unserer Stadt, blieb Zeit seines Lebens ungebrochen. Schon vor der Wende reiste er regelmäßig her, diskret – und natürlich immer streng beäugt von der Staatsmacht.

Nach der Wende sorgte er dann dafür, dass Halle bekannter und bekannter wurde. Auch indem er viele seiner prominenten Freunde und Kollegen hierherbrachte.

Den französischen Außenminister Roland Dumas.

Den damaligen sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse.

Was übrigens bemerkenswert ist: Hans-Dietrich Genscher hat seine vielen prominenten Freunde und Kollegen schon lange VOR der Wende nach Halle eingeladen. Und er wusste selbst: Viele sagten zu, einfach weil sie dachten: Das wird eh nix.

Hans-Dietrich Genscher, das sagen alle, die ihn kannten, glaubte in den Jahren der deutschen Teilung unbeirrbar an die Deutsche Einheit – er glaubte daran auch zu einer Zeit, in der die vermutlich meisten Politiker in der Bundesrepublik die Einheit, insgeheim oder auch öffentlich, längst zu den Akten gelegt hatten.

Henry Kissinger erinnerte sich in einem Nachruf so.

Zitat:

„Ich denke, er hat jeden Außenminister, den er traf, um das Versprechen gebeten, eines Tages mit ihm nach Halle zu reisen, in seine Heimatstadt. Nur lag diese in der DDR, und wir sprechen von den siebziger Jahren, als die Vorstellung, nach einer deutschen Wiedervereinigung eine Halle-Reise anzutreten, nicht mehr war als eine Bestrebung. Und natürlich haben wir es ihm alle versprochen – schon weil wir dachten, es würde ohnehin niemals geschehen. Aber dann geschah es doch, und er lud mich und Michael Gorbatschow nach Halle ein, und ich bin mit Genscher von Westdeutschland nach Halle geflogen. Der Besuch dort wurde einer der bewegendsten Augenblicke meines politischen Lebens.“

Genschers Schulfreund Günther Fugmann erzählt, dass Hans-Dietrich Genscher an Dutzenden Schul- und Klassentreffen teilgenommen hat. Und seine runden Geburtstage hat er ebenfalls gerne mit den ganz alten Freunden gefeiert.

Mitte der 1990er Jahre moderierte Hans-Dietrich Genscher 13 Mal die damaligen Leserforen der Mitteldeutschen Zeitung. Die Karten für diese Veranstaltungen waren jedes Mal schon Wochen im Voraus vergriffen – und nach Diskussionsschluss stürzten immer wieder zahlreiche Teilnehmer auf Hans-Dietrich Genscher zu. Mit der Bitte um Hilfe, in diesem oder jenem Fall.

Sehr typisch für Hans-Dietrich Genscher war nämlich, dass er seine Aktivitäten nie an die große Glocke hing. Er arbeitete still, aber immer konstruktiv, immer mit Blick auf eine Lösung.

Ein Beispiel:

Paul Raabe, der 2013 verstorbene Direktor der Franckeschen Stiftungen, schrieb in seinen Lebenserinnerungen: „Genscher wirkte oft im Hintergrund, er stellte Kontakte her, beredete Anträge an wichtige Gremien mit einflussreichen Kollegen und hat so zur Sicherung der Stiftungen ganz entscheidend beigetragen.“

….

Meine Damen und Herren, Hans-Dietrich Genscher erhielt über 70 Auszeichnungen und Ehrungen. Alles ist dabei, vom Großen Verdienstkreuz bis zum „Orden wider den tierischen Ernst“. Und dem Karl-Valentin-Orden. Oft befand sich in den launigen Dankesreden einer seiner Lieblingssätze: „Da ich das Wort habe, will ich es mir auch nehmen.“

Und natürlich auch zahlreiche Ehrendoktorwürden. Es klang eben schon an: 1991 kam für Hans-Dietrich Genscher eine weitere Ehrung hinzu, nämlich die Ehrenbürgerschaft der Stadt Halle. Klaus Rauen, der damals Oberbürgermeister war, erinnert sich, dass Genscher den Ehrenbürgerbrief mit Tränen in den Augen empfangen hatte.

Was ihn ebenfalls sehr bewegt hat, war die Rettung seines Geburtshauses in Reideburg. Natürlich kam er 2009 zur Einweihung. Und ich finde, es ist eine wirklich wunderbare Pointe der Geschichte, dass aus Genschers Geburtshaus, das so lange dem Verfall preisgegeben war, die Bildungs- und Begegnungsstätte Deutsche Einheit geworden ist.

Genschers Interesse an Halle erreichte mich des Öfteren.

Im Januar 2013 war Hans-Dietrich Genscher zum Festakt an das Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium gekommen, aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums „seines“ Gymnasiums.

Im Juni 2016 besuchte er seine Heimatstadt Halle auf dem Martha-Maria Areal in der Fährstraße, um sich ein Bild von den Auswirkungen des Hochwassers 2013 zu machen. Immer wieder schüttelte er seinen Kopf, als ich ihm von den kritischen Stunden am Gimritzer Damm berichtete. Wir waren uns einig:  Es war letztlich ein Wunder. Und die gute Arbeit des Katastrophenschutzes: Mit dem sprichwörtlich letzten Sandsack und den vielen freiwilligen Helfern konnte eine Überflutung Halle-Neustadts verhindert werden.

In regelmäßigen Abständen erhielt ich Anrufe: Herr Genscher ist am Telefon und möchte mit ihnen sprechen.

Er habe da was gelesen.

Er wolle da mal was wissen.

Ob ich ihm da mal schnell etwas erklären könne.

Es waren meist Themen zur Demokratie, Vielfalt und Toleranz in unserer Stadt. Telefonate nie unter 30 Minuten. Auch persönliche, mit vielen für mich unvergesslichen Gesten.

Auch viele Bilder im Bildband zeigen Hans-Dietrich Genscher als überzeugten Demokraten. Im Video-Interview der Neuen Zürcher Zeitung sagte er dazu:

Zitat:

„Die Demokratie ist ja nicht eine bequeme Sache, wo der eine sagt, was gemacht wird und die anderen nicken mit dem Kopf. Darüber muss diskutiert werden und am Ende muss entschieden werden.“

Seine Stimme wurde ernst, wenn in regelmäßigen Abständen Parteienkritiker den parteipolitischen Weltuntergang prophezeiten oder gar von der Entmachtung des Volkes sprachen. Was für ein Blödsinn. Deutschland steht in der Welt ziemlich gut da, das demokratische Parteiensystem funktioniert, angesichts der vielen Herausforderungen. In dieser ach so schlimmen Parteienlandschaft. Im Ernst: Parteien sind und bleiben die besten Grundlagen einer Demokratie, auch im Falle einer Direktwahl eines parteilosen Oberbürgermeisters.

Stets aber müssen wir neue Antworten finden auf die Frage: Was hält eine Demokratie lebendig? Demokratie so sagte Genscher immer, ist ein Mannschaftssport. Viele Menschen haben ja inzwischen das Gefühl, dass ihre Stimme in der Demokratie eben nicht gehört wird. Umso mehr bin ich froh, dass in Halle die Demokratie lebendig ist und keine Einzelkämpfer aktiv sind. Sondern, dass es mit der „Hallianz für Vielfalt“ – getragen durch die Stadt Halle – ein wirklich breites Bündnis für Demokratie und Vielfalt in unserer Stadt gibt. Das wird die Stadt Halle am 1. Mai wieder auf Halles Straßen zeigen, da bin ich mir sicher. Allen Beteiligten will ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank für ihr Engagement aussprechen.

In den letzten Gesprächen vor seinem Tod sprach Hans-Dietrich-Genscher auch von Vernunft, wie mit den immer schneller werdenden digitalen Veränderungen in Halle umzugehen ist. Wie sollen sich Städte auf die digitale Welt einstellen, wenn beispielsweise Autos autonom durch unsere Stadt fahren oder Straßenlaternen Feinstaubdaten liefern, vorbeifahrende Autos zählen und Bürger mit WLAN versorgen? Der Mensch gibt seinen Kopf ab, das sog. intelligente System übernimmt dessen Funktion. Ist das noch vernünftig? Es beginnt die Herrschaft der Datenkraken, die zudem oft noch gespickt sind mit falschen Fakten. Im Ergebnis eine Horrorvorstellung. Antworten darauf konnten wir leider nicht mehr weiter erörtern.

Angesichts dieser Umbrüche gilt es zweifellos, auf Neuerungen zu fokussieren, unsere Stadt weiterzuentwickeln. Der erweiterte Kulturbegriff verlangt von uns, neue Teilnehmerkreise in der Bürgerschaft zu finden und diese für eine zusehends digitalisierte Realität zu befähigen. Möglicherweise über die Einführung von Stadtbezirksräten. Und sich dabei neu zu erfinden. Letztlich wird es eine Herausforderung werden, auf die digitalen Veränderungen für die Stadt Halle die richtigen Antworten zu finden. Ein wichtiges Thema, möglicherweise geeignet für eine Bewerbung zur Kulturhauptstadt.

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Übrigens: Halle war Hans-Dietrich Genscher nicht nur lieb – sondern manchmal auch teuer. Ich habe eine Notiz im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ aus dem Jahr 1990 gefunden. Damals gab es im Auswärtigen Amt alljährliche eine Versteigerung von Karikaturen. Die Karikatur zeigte einen tanzenden Hans-Dietrich Genscher, wie er „Mein Halle! Halle! Halleluja!!!“ singt. Und dazu die DDR zu Grabe trägt. Ich weiß nicht, ob die Karikatur noch bei Ihnen hängt, Frau Genscher, aber Ihr Mann ersteigerte sie damals für immerhin 750 Mark.

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Meine Damen und Herren, noch einmal der Satz aus Hans-Dietrich Genscher Memoiren: „Zeit meines Lebens war ich stolz auf Halle.“

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Wir haben allen Grund, es auch zu sein.

Auf Halle.

Und auf Hans-Dietrich Genscher.

Vielen Dank.

 

 

Rede des Oberbürgermeisters zum Festakt für Hans-Dietrich Genscher am 31.3.2017